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Endlagersuche

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Endlagersuche

Ende der Atomkraft in Deutschland: Das letzte herausfordernde Kapitel

von Wolfram König und Patrizia Nanz

Atommeiler des stillgelegten Atomkraftwerkes Grafenrheinfeld hinter einem Rapsfeld Atomkraftwerk GrafenrheinfeldAtomkraftwerk Grafenrheinfeld Quelle: picture alliance/dpa/Ole Spata | Ole Spata

Das Ende der zivilen Nutzung der Atomenergie in Deutschland ist zum Greifen nahe: Zehn Jahre nach dem Beschluss des Bundestages zum heute gültigen Atomausstieg und 21 Jahre nach dem ursprünglichen „Atomkonsens“ der ersten rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2000 werden spätestens im Dezember 2022 die letzten drei Reaktoren vom Netz gehen.

Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung Wolfram KönigWolfram König, Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung Quelle: BASE

Foto Prof. Dr. Patrizia Nanz Prof. Dr. Patrizia NanzProf. Dr. Patrizia Nanz, Vizepräsidentin des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung und Leiterin des Laboratoriums Beteiligende Verwaltung Quelle: Maurice Weiss/Ostkreuz

Oberflächlich betrachtet hat es die Bundesrepublik also in einem jahrzehntelangen Kraftakt geschafft, aus einer hoch umstrittenen Risikotechnologie auszusteigen, die uns die nachhaltigkeitsfeindliche Technologiegläubigkeit des 20. Jahrhunderts beschert hat. Die langfristigen Folgen der Atomenergie werden uns aber noch über mehrere Generationen beschäftigen. Auch die Fehler, die im politischen Umgang mit den technologischen Risiken der Atomenergie genauso wie mit den gesellschaftlichen Konflikten gemacht wurden, werden noch lange nachwirken.

Direkt greifbar wird dies anhand der sogenannten Castor-Behälter mit hochradioaktiven Abfällen, die über ganz Deutschland verteilt in insgesamt 16 Zwischenlagern stehen. Mensch und Umwelt müssen dauerhaft vor der hochgefährlichen Strahlung dieser radioaktiven Abfallstoffe geschützt werden, und zwar für den unvorstellbaren Zeitraum von einer Million Jahren. Der Atomausstieg wird somit erst vollendet sein, wenn die radioaktiven Abfälle sicher in einem Endlager eingeschlossen sind.

Auf dem Weg in die nachhaltige Gesellschaft des 21. Jahrhunderts stellt das letzte Kapitel der Atomenergie – Suche, Errichtung und Betrieb dieses Endlagers – über die nächsten Jahrzehnte eine hochkomplexe wissenschaftliche, technologische und politisch-gesellschaftliche Herausforderung dar. Diese Herausforderung lösen wir nur durch Kooperation und Gemeinwohlorientierung. Gerade deshalb liegt in dieser Herausforderung aber auch die Chance: Indem wir die Fehler des 20. Jahrhunderts bewältigen, können wir neue Formen der gesellschaftlichen Problemlösung entwickeln und erproben. Davon würde eine nachhaltige Gesellschaft des 21. Jahrhunderts profitieren.

Wackersdorf, Gorleben, Asse – die Last der Vergangenheit

Wackersdorf, Gorleben, Asse – das Scheitern der über Jahrzehnte verfolgten Entsorgungsstrategie für radioaktive Abfälle hat in Deutschland Ortsnamen. Und es sind die damit verbundenen Bilder, die sich in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation eingebrannt haben: der Schaufelradlader beim Abkippen von Atommüllfässern im alten Bergwerk in der Asse, die jungen Menschen auf den Eisenbahnschienen, die mit ihren Körpern die Weiterfahrt des Zugs mit Castor-Behältern nach Gorleben blockieren, der Kampf zwischen Polizei und Demonstranten vor und hinter einem stacheldrahtbewehrten Stahlzaun in Wackersdorf, eingehüllt im Tränengasnebel. Diese Bilder stehen für einen erheblichen Vertrauensverlust in das Handeln von Politik, Verwaltung und Wissenschaft. Der Staat wurde hier nicht als Garant für die Sicherheit aller Bürger:innen wahrgenommen, sondern als „Atomstaat“, der seine Politik rücksichtslos durchsetzt und sich somit zum Handlanger einer Interessengruppe machte.

Aktivisten besetzen die Eisenbahnschienen bei einem Castortransport Proteste beim CastortransportProtest gegen einen Castortransport (2011) Quelle: picture-alliance / rtn - radio tele nord | rtn, peter

In dem ausgebeuteten Salzbergwerk Asse beispielsweise wurden bis 1977 im Namen einer Bundesforschungseinrichtung 127.000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen klammheimlich entsorgt. Wissenschaftlich begründete Kritik an der fehlenden Sicherheit des Bergwerks wurde von Anbeginn vorgetragen, jedoch nicht gehört. Offensichtlich stand nicht die vorgebliche Endlagerforschung, sondern die für die Atomkraftwerksbetreiber billige Entsorgung der Abfälle im Zentrum des Handelns. 30 Jahre nach Ende der Einlagerung wurde deutlich, dass die atomrechtlich geforderte Sicherheit nur durch das Bergen der Abfälle hergestellt werden kann. Ein Vorhaben, das den Steuerzahler Milliarden kosten und Jahrzehnte dauern wird.

Nachdem die Ansiedlung einer Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben vom damaligen Ministerpräsidenten Niedersachsens Ernst Albrecht zunächst verfolgt, aber dann als politisch nicht durchsetzbar abgelehnt wurde, erklärte Bayerns Ministerpräsident Franz-Josef Strauß Wackersdorf in der Oberpfalz zum neuen Standort. Es kam gegen diese „Entscheidung von oben“ zu einem auch von bürgerlichen Kreisen breit getragenen Protest, der über mehrere Jahre zu einer der härtesten Auseinandersetzungen zwischen Staat und Bevölkerung in der Bundesrepublik eskalierte.

Nicht zuletzt zur juristischen Absicherung des Betriebs ihrer Atomkraftwerke hatten die Energieversorgungsunternehmen deshalb Verträge zur Wiederaufarbeitung bestrahlter Brennelemente in Frankreich und Großbritannien geschlossen. Sie dienten den Betreibern als Nachweis der Entsorgung bestrahlter Brennelemente. Diese beinhalten auch die Rücknahme der Castor-Behälter mit verglasten Abfällen, die nur für die Zwischenlagerung in Gorleben zugelassen waren. Verbracht wurden diese rund 100 Tonnen schweren Behälter in eine Halle in unmittelbarer Nachbarschaft zum Salzstock Gorleben, der bis zum Ausstiegsbeschluss aus der Atomenergie in Deutschland auf eine Eignung als Endlager untersucht wurde.

Die völkerrechtlich vereinbarte Rücknahme der Verarbeitungsabfälle aus der Wiederaufarbeitung in Form von Castor-Transporten wurde zum Sinnbild des Verschiebens der ungelösten Entsorgungsfrage. Auch die politisch motivierte Festlegung auf Gorleben als Endlager-Standort provozierte jahrzehntelange erbitterte Proteste der Anti-Atomkraft-Bewegung. Ohne formalisierte Beteiligungsrechte und verbindliche Eignungskriterien wurde die Eignungsfrage des Salzstocks zu einem besonderen Ort der Standortbestimmung – nämlich Für oder Wider die Atomkraftnutzung.

Ein neues Verfahren für ein komplexes Problem

Der geschichtliche Rückblick zeigt, dass der Umgang mit radioaktiven Abfällen in Deutschland bis zum Atomausstieg eine Geschichte des Scheiterns gewesen ist. Politischen Akteuren und Institutionen ist es nicht gelungen, eine verantwortungsvolle Lösung für die Endlagerung der hochradioaktiven bestrahlter Brennelemente der Atomkraftwerke zu finden. Im Ergebnis wird die Vollendung der Endlagerung von einer Generation geleistet werden müssen, die selbst nie direkt die Atomenergie genutzt hat – die gegenwärtigen Pläne sehen dafür das Ende dieses Jahrhunderts vor.

Als im Jahr 2014 die pluralistisch zusammengesetzte Endlagerkommission nach dem Atomausstiegsbeschluss des Bundestages zusammenkam, verpflichteten sich alle Beteiligten, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. So wurden die Grundlagen für ein neues Verfahren gelegt, das sich seit 2017 an drei Leitgedanken orientiert: Verantwortung, Sicherheit und Fairness - für unsere Generation und für die Generationen, die nach uns kommen.

Abgeordnete im Deutschen Bundestag stimmen über den Atomausstieg ab Bundestag - Abstimmung AtomausstiegAbstimmung im Bundestag über den Atomausstieg Quelle: pa/dpa | Wolfgang Kumm

Aus Sicht von Wissenschaft und Technik wird die tiefengeologische Lagerung in festen Gesteinsschichten als beste Lösung für die Endlagerung betrachtet. In allen Teilen der Welt, so zum Beispiel auch bei unseren europäischen Nachbarn in Frankreich, Finnland, Schweden und der Schweiz, werden Endlager im Untergrund gesucht und geplant. Stabile geologische Formationen bieten einen effektiven und langfristigeren Schutz als von Menschen geschaffene Bauwerke oder Sicherheitsvorkehrungen wie Wachmannschaften und Stacheldraht.

Da geologische Veränderungen über Millionen von Jahren nachvollziehbar sind, lassen sich Entwicklungen und daraus abgeleitete Sicherheitsprognosen auch für die Zukunft treffen. Gesteine in mehreren hundert Metern Tiefe bilden zudem eine natürliche Barriere zum Schutz vor Strahlung. Entsprechend lassen sich sehr langfristige Konzepte für die sichere Lagerung von hochradioaktiven Stoffen erstellen.

Darüber hinaus zeigt uns die Geschichte, dass Demokratien und langanhaltende Phasen des Friedens potentiell kurzlebige Phänomene darstellen. Die heute vorhandenen Grundlagen für den verantwortungsbewussten und kompetenten Umgang mit hochgefährlichen Abfällen können schnell erodieren. So dient ein Endlager im tiefen Untergrund deshalb auch dem Schutz künftiger Generationen vor Fahrlässigkeit oder Missbrauch.

Der über Hunderttausende von Jahren strahlende hochradioaktive Abfall soll dauerhaft sicher an einem Ort gelagert werden, wo er quasi „vergessen“ werden kann – und so würde selbst der Verlust wichtigen Know-hows über die Jahrtausende die Sicherheit des Endlagers nicht gefährden. Das tiefengeologische Endlager ist, kurz gesagt, ein Ort zum Schutze des Menschen aber auch zum Schutze vor dem Menschen.

Wie aber findet man einen Standort für ein solches Endlager? Wie geht man mit den Unsicherheiten und Risiken verantwortungsbewusst um? Wie geht man an soziale Konflikte heran, die sich um große Infrastrukturprojekte immer stärker kristallisieren und im Fall des Endlagers die Dimensionen von Stuttgart 21 oder Flughafenprojekten womöglich weit übersteigen?

Das 2017 vom Gesetzgeber auf den Weg gebrachte Standortauswahlgesetz etabliert einen Rahmen, in dem bis 2031 ein Standort für ein Endlager gefunden und diese Schwierigkeiten konstruktiv begleitet werden sollen: In einem deutschlandweiten Vergleich potenzieller Regionen ist das Ziel der Standort mit der bestmöglichen Sicherheit. Ausgangspunkt war die „weiße Landkarte“, d.h. zunächst wurde die gesamte Bundesrepublik daraufhin betrachtet, ob dort für ein Endlager geeignete Vorkommen von Ton-, Salz- oder Kristallingestein vorhanden sind. Der Suchraum wird im Laufe des Verfahrens sukzessive und anhand wissenschaftlicher Kriterien eingeengt. Dass der Bundestag das Standortauswahlgesetz in einem breiten und überparteilichen Konsens angenommen hat, ist eine entscheidende Grundlage für eine überparteiliche und kooperative Standortsuche.

Die Leitgedanken: Verantwortung, Fairness und Sicherheit

Verantwortung, Fairness und Sicherheit sind oberste Handlungsmaximen bei der Suche nach einem Endlager-Standort. Die erste wichtige Weichenstellung war, die Gesamtverantwortung für die Endlagerung in die Hand des Bundes zu legen. So übernimmt der Bundestag gesetzgeberische Verantwortung zu drei Zeitpunkten im Verfahren: für die Vorschläge von Regionen und später auch für den ausgewählten Standort - ein außergewöhnliches Vorgehen in einem Planungsverfahren.

Auf der exekutiven Ebene liegt die Verantwortung beim Bundesumweltministerium, das das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) als Bundesaufsicht für die Endlagerung mit der Aufgabe betraut hat, die Umsetzung des Standortauswahlverfahrens zu überwachen und die Öffentlichkeit daran zu beteiligen. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) mbH, ein bundeseigenes Unternehmen, setzt als Vorhabenträgerin die operativen Schritte der Standortsuche um, wie zum Beispiel die geologische Erkundung von Standorten. Und schließlich wurde mit dem Entsorgungsfonds 2017 ein Mechanismus geschaffen, durch den die Energieversorgungsunternehmen als Abfallverursacher die Verantwortung für die Kosten der Endlagerung übernehmen.

Die bestmögliche Sicherheit des Endlager-Standorts wird durch ein vergleichendes, wissenschaftsbasiertes und transparentes Verfahren gewährleistet, durch das der bestmögliche Standort ausgewählt wird. Die wissenschaftlichen Kriterien, die für einen potenziellen Standort gelten, wurden vor Beginn der Suche im Gesetz festgelegt und sind deshalb im besonderen Maße verbindlich. Die Geologie hat dabei eindeutig Vorrang in der Bewertung. Die für die Suche wesentlichen Unterlagen werden proaktiv veröffentlicht und die Öffentlichkeit kann in allen Phasen des Verfahrens Untersuchungsergebnisse einsehen, kritisch hinterfragen und eigenes Wissen einbringen.

Auch durch den regelmäßigen Abgleich mit dem Stand von Wissenschaft und Technik und durch gerichtliche Überprüfungen soll der eingeschlagene Weg hinterfragt werden. Dadurch können auch Rücksprünge im Verfahren möglich sein. Selbst nach Errichtung des Endlagers wird für einen gewissen Zeitraum das Prinzip der Reversibilität aufrechterhalten: Während der Betriebszeit des Endlagers sollen die Abfälle rückholbar sein. Danach lautet die Vorgabe, dass die Abfälle für maximal 500 Jahre wieder geborgen werden können. Nachfolgende Generationen haben so für einen begrenzten Zeitraum die Möglichkeit, Entscheidungen aus der Vergangenheit anzupassen, wenn Sicherheitsbedenken bestehen oder es überzeugendere und sicherere Lösungen gibt.

Eine Gruppe junger Menschen diskutieren über Beteiligung Jugendworkshop in Kassel_BeteiligungJugendworkshop im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung Quelle: BASE

Schließlich wird die Fairness des Verfahrens durch ein einmaliges Beteiligungsverfahren gewährleistet. Letztlich übernimmt der zukünftige Endlagerstandort im besonderen Maße Verantwortung für die Allgemeinheit. Weder darf deshalb die Allgemeinheit die ernstzunehmenden Bedenken einer Region übergehen, noch darf durch eine sogenannte „Not in my backyard“-Einstellung die Lösung des Problems verhindert werden. Um mit Unsicherheiten, Konflikten und unterschiedlichen Perspektiven umzugehen und um kooperative Lösungsansätze zu fördern, wurden im Verfahren verschiedene Dialogforen und das Nationale Begleitgremium (NBG) vorgesehen.

Es gehört zur Fairness dazu, dass die Suche eines Endlager-Standorts auch mit der gemeinsamen Erarbeitung von Konzepten zur regionalen Entwicklung verknüpft wird. Um diese Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme des Endlagerstandorts anzuerkennen und mögliche Belastungen auszugleichen, braucht es für den Standort eine langfristige Perspektive.

Das Verfahren kooperativ gestalten

Politisch wurde also mit dem Konsens über das Standortauswahlgesetz ein mutiger und verantwortungsbewusster Rahmen für die Suche nach einem Endlager-Standort gesetzt. Hinsichtlich der Komplexität und Dauer der wissenschaftlich-technischen Aufgabe genauso wie hinsichtlich der gesetzten Standards für Öffentlichkeitsbeteiligung und Transparenz ist die Suche nach einem Endlager-Standort das wohl anspruchsvollste Planungsverfahren für ein Infrastrukturprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik.

Das Verfahren steht noch am Anfang. Die Vorhabenträgerin BGE mbH hat im September 2020 den Zwischenbericht Teilgebiete vorgelegt, der einen ersten Zwischenstand ihrer Arbeiten darstellt. Er trifft noch keine Festlegungen für potenzielle Standorte und wurde im Rahmen einer bundesweiten Öffentlichkeitsbeteiligung, der Fachkonferenz Teilgebiete, für alle Interessierten zugänglich diskutiert.

Schon die ersten Schritte zeigen aber, vor welchen Herausforderungen das Standortauswahlverfahren steht. Der Zwischenbericht der Vorhabenträgerin hat überraschend mehr als die Hälfte der bundesrepublikanischen Landesfläche als potentiell für ein Endlager geeignet ausgewiesen. Das hat einerseits zu einer diffusen Betroffenheit und Verunsicherung einer großen Anzahl von Regionen geführt. Andererseits ist damit eine erhebliche Unklarheit über den zeitlichen Verlauf der weiteren Schritte der Standortsuche entstanden.

Diese diffuse Betroffenheit und Verunsicherung haben manche dazu verleitet, politischen Einfluss auf das Verfahren zu nehmen. So konstatiert der gegenwärtige bayerische Koalitionsvertrag, man sei „überzeugt, dass Bayern kein geeigneter Standort“ sei. Es gibt zudem Tendenzen, die durch das Standortauswahlgesetz etablierten institutionellen Rahmenbedingungen mit Verweis auf die unerwarteten Entwicklungen zu revidieren. Wichtig ist aber, dass der grundlegende politische Konsens hinter der neuen Suche nach einem Endlager-Standort nicht schon zu einem frühen Zeitpunkt unterlaufen wird und dies später als Präzedenzfall für weitere Aufweichungen des Standortauswahlgesetzes dienen kann.

Eine Frau schaut sich eine Tafel an, die die Orte zeigt, an denen hochradioaktiver Abfall entsteht und wo er gelagert wird.Wo entstehen und lagern hochradioaktive Abfälle in Deutschland? Quelle: BASE/BILDKRAFTWERK/Zöhre Kurc

Es ist nun an den verantwortlichen Akteuren des Bundes, den durch das Standortauswahlgesetz gesteckten Rahmen verantwortungsbewusst und kooperativ auszugestalten, um die aktuellen Schwierigkeiten entschlossen zu bewältigen. Für das weitere Vorgehen der Standortsuche muss gemeinsam Klarheit darüber geschaffen werden, wie die weitere Suche gestaltet sein wird und welche berechtigten Erwartungen an Transparenz und Beteiligung die Öffentlichkeit bei der weiteren Eingrenzung der für einen Standort geeigneten Regionen haben kann.

Es geht im Gesamtverfahren aber nicht nur um die kontinuierliche Nachvollziehbarkeit und „Kontrolle“ der Arbeit der BGE, sondern es muss auch ein Raum geschaffen werden für gesellschaftliche Klärung übergeordneter Fragen des Verfahrens: Auch nach der Abschaltung der letzten Atomkraftwerke und mit zunehmender Einengung möglicher Standorte dürfen für ein Endlager in Frage kommende Regionen nicht von der Gesellschaft im Stich gelassen werden. Welche Solidarität schulden wir den in Frage kommenden Gemeinden für die Dauer des Verfahrens? Was verlangt die Gerechtigkeit von uns allen gegenüber dem gefundenen Endlager-Standort und seinen Anwohner:innen? Wie können wir die Gleichbehandlung aller Bundesländer sicherstellen, so dass sich nicht gut organisierte Bundesländer auf Kosten anderer durchsetzen – diese Fragen werden wir für ein gelingendes Verfahren in den kommenden Jahren diskutieren und beantworten müssen.

Darüber hinaus ist das Verfahren auf die fortgesetzte Unterstützung von Bundes- und Landespolitik angewiesen. Diese Legislaturperiode wird zeigen wie stabil und widerstandsfähig der 2017 erzeugte gesellschaftliche Konsens auf die Dauer sein wird. Auch die immer wieder aufflackernde Diskussion über einen möglichen Wiedereinstieg in die Atomenergie – augenblicklich wird auf EU-Ebene ihre Einschätzung als „nachhaltige Energieform“ diskutiert – wird uns möglicherweise noch länger begleiten.

Unsere Einschätzung jedenfalls ist eindeutig: Das Standortauswahlverfahren ist eine einmalige Chance, ein hochgefährliches Problem zu lösen, das uns die Technikgläubigkeit des 20. Jahrhunderts beschert hat. Wenn es uns nun nicht gelingt, die Leitgedanken des Verfahrens – Verantwortung, Sicherheit und Fairness – gemeinsam mit den Kommunen und der Zivilgesellschaft in die Tat umzusetzen, dann wird der Atomausstieg nicht vollendet und auch eine nachhaltigere Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit einem Risiko konfrontiert sein, das wir nicht ignorieren können. Wenn aber alle für die Suche nach einem Endlager-Standort relevanten Akteure konstruktiv an einem Strang ziehen, wird das an Komplexität und Dauer beispiellose Verfahren ermöglichen, dass wir in Deutschland aus den Fehlern unserer Vergangenheit lernen und was es konkret bedeutet, gesamtgesellschaftliche Verantwortung im Sinne von Fairness zu übernehmen.

Stand: 11.11.2021